Die „ethnologische Betrachtungsweise“ (VB, S. 502), die Fähigkeit, philosophische Probleme mit ‘ethnologischem’ Blick zu sehen, will Wittgenstein hauptsächlich aus seinen Gesprächen mit Sraffa gelernt haben. Auch seine kritische Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough ist jedoch eine Einübung in diese ‘ethnologische’ Betrachtungsweise, in der Philosophie nicht zu Ethnologie werden soll. Die Auseinandersetzung mit dem schottischen Ethnologen prägt die denkerische Entwicklung, die Wittgenstein schließlich zu den Philosophischen Untersuchungen und den späten Reflexionen Über Gewißheit führen wird; denn als Wittgenstein 1931 beginnt, The Golden Bough zu lesen, befindet er sich noch in einer relativ frühen, zugleich aber entscheidenden Phase seiner Suche nach einer neuen Philosophie. In der Frazer-Kritik stimmt er mit Ethnologen seiner Generation in mehreren Punkten überein. Er trifft sich mit ihnen gerade in seinem ausgeprägten Bewusstsein von der Bedeutung des jeweiligen kulturellen Kontextes. Friedrich Waismanns Ausführungen entnimmt der vorliegende Beitrag, dass Wittgenstein, dem aufmerksamen, wenn auch extrem kritischen Leser von Ogden und Richards‘ The Meaning of Meaning,“ der dort enthaltene Aufsatz Malinowskis „The Problem of Meaning in Primitive Languages“ nicht entgangen ist. Auch bei Wittgenstein nimmt die Beschreibung der Bedeutung zuletzt die Gestalt eines Kulturvergleichs, einer Kulturbeschreibung an. Die Beschreibung der „Umstände[] des gewöhnlichen Lebens“, auch unseres eigenen, ist freilich keine einfache Aufgabe: „Es würde außerordentlich schwer sein, diese Umstände auch nur in groben Zügen zu beschreiben.“ Diese außerordentliche Schwierigkeit wird Wittgenstein noch in Über Gewißheit beschäftigen.
"Blicke weiter um dich!" „Ethnologische Betrachtungsweise“ und Kritik der Ethnologie bei Wittgenstein
Brusotti, Marco
2007-01-01
Abstract
Die „ethnologische Betrachtungsweise“ (VB, S. 502), die Fähigkeit, philosophische Probleme mit ‘ethnologischem’ Blick zu sehen, will Wittgenstein hauptsächlich aus seinen Gesprächen mit Sraffa gelernt haben. Auch seine kritische Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough ist jedoch eine Einübung in diese ‘ethnologische’ Betrachtungsweise, in der Philosophie nicht zu Ethnologie werden soll. Die Auseinandersetzung mit dem schottischen Ethnologen prägt die denkerische Entwicklung, die Wittgenstein schließlich zu den Philosophischen Untersuchungen und den späten Reflexionen Über Gewißheit führen wird; denn als Wittgenstein 1931 beginnt, The Golden Bough zu lesen, befindet er sich noch in einer relativ frühen, zugleich aber entscheidenden Phase seiner Suche nach einer neuen Philosophie. In der Frazer-Kritik stimmt er mit Ethnologen seiner Generation in mehreren Punkten überein. Er trifft sich mit ihnen gerade in seinem ausgeprägten Bewusstsein von der Bedeutung des jeweiligen kulturellen Kontextes. Friedrich Waismanns Ausführungen entnimmt der vorliegende Beitrag, dass Wittgenstein, dem aufmerksamen, wenn auch extrem kritischen Leser von Ogden und Richards‘ The Meaning of Meaning,“ der dort enthaltene Aufsatz Malinowskis „The Problem of Meaning in Primitive Languages“ nicht entgangen ist. Auch bei Wittgenstein nimmt die Beschreibung der Bedeutung zuletzt die Gestalt eines Kulturvergleichs, einer Kulturbeschreibung an. Die Beschreibung der „Umstände[] des gewöhnlichen Lebens“, auch unseres eigenen, ist freilich keine einfache Aufgabe: „Es würde außerordentlich schwer sein, diese Umstände auch nur in groben Zügen zu beschreiben.“ Diese außerordentliche Schwierigkeit wird Wittgenstein noch in Über Gewißheit beschäftigen.I documenti in IRIS sono protetti da copyright e tutti i diritti sono riservati, salvo diversa indicazione.