Der Beitrag untersucht Wittgensteins Stellungnahmen zu Nietzsche, die Thesen und Positionen, die er zu Recht oder zu Unrecht ihm zuschreibt, seine Auseinandersetzung mit ihnen und seine Einschätzung von Nietzsches historischer Bedeutung. An Zeugnissen einer direkten Lektüre fehlt es nicht, aber Wittgensteins Bild des Philosophen ist mindestens ebenso stark durch Autoren wie Spengler geprägt. Man hat „a troubling lack of reference to Nietzsche in Wittgenstein’s texts and lectures“ feststellen wollen. Die eingehendere Prüfung des Materials führt zu einem ganz anderen Ergebnis. Es werden eine Reihe von Szenarien skizziert, deren Synopse über Nietzsches Bedeutung für Wittgenstein Aufschluss gibt. Die erste belegte Begegnung datiert von 1914: An der Front denkt er über Nietzsches „Feindschaft gegen das Christentum“ nach: Dass er sich dabei auf den Antichrist bezieht, wie in der Wittgenstein-Forschung generell angenommen, erweist sich als keineswegs sicher. In den dreißiger Jahren wird ihm die ‚Umwertung aller Werte‘ zu einer Formel zuerst für die geschichtliche Epoche und dann für seine eigene neue ‚Gedankenbewegung‘. Nietzsches Präsenz im Wiener Kreis, Wittgensteins zwiespältige Beziehung zu diesem und eine damalige Sicht auf den Zusammenhang zwischen den zwei Philosophien werden ausgehend von Waismanns Buch Logik, Sprache und Philosophie dargestellt. Zu Zarathustras Diktum „Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe“ hat Wittgenstein seit Eine philosophische Betrachtung wiederholt Stellung genommen. Der Begriff der Familienähnlichkeit und die Auseinandersetzung mit dem Wiederkunftsgedanken sind Gegenstand der letzten Abschnitte. - Abstract: This essay examines Wittgenstein’s statements about Nietzsche, the theses and positions that he (correctly or incorrectly) attributes to Nietzsche, his reflections upon those theses and positions and his assessment of Nietzsche’s place in history. There is no shortage of evidence that Wittgenstein read some of Nietzsche’s own works, but, other authors, such as Spengler, exerted at least as much influence on Wittgenstein’s perception of Nietzsche. Scholars have tended to assert „a troubling lack of reference to Nietzsche in Wittgenstein’s texts and lectures“. However, a more intensive examination of the available evidence leads to a very different result. The author of the essay outlines a series of encounters, which, taken as a whole, show Nietzsche’s importance for Wittgenstein. The first documented encounter took place in 1914: While on the front, Wittgenstein reflected upon Nietzsche’s „enmity toward Christianity“. The general assumption in Wittgenstein studies – that Wittgenstein here has The Antichrist in view – proves to be far from certain. In the ’30s, Wittgenstein used the phrase „revaluation of all values“, initially for the historical epoch and, then, for his own new „movement of thought“. On the basis of Waismann’s book, The Principles of Linguistic Philosophy (Logik, Sprache und Philosophie), the essay illustrates Nietzsche’s significance for the Vienna Circle, Wittgenstein’s ambiguous relationship to this group and a contemporary view of the relationship between the two philosophies. Beginning with The Brown Book, Wittgenstein repeatedly commented on Zarathustra’s motto „Soul is only a word for something hung upon the body“ (Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe). The final two sections of the essay deal with Wittgenstein’s concept of „family likeness“and with his critique of Nietzsche’s „Eternal Recurrence“.
Wittgensteins Nietzsche. Mit vergleichenden Betrachtungen zur Nietzsche-Rezeption im Wiener Kreis
Brusotti, Marco
2009-01-01
Abstract
Der Beitrag untersucht Wittgensteins Stellungnahmen zu Nietzsche, die Thesen und Positionen, die er zu Recht oder zu Unrecht ihm zuschreibt, seine Auseinandersetzung mit ihnen und seine Einschätzung von Nietzsches historischer Bedeutung. An Zeugnissen einer direkten Lektüre fehlt es nicht, aber Wittgensteins Bild des Philosophen ist mindestens ebenso stark durch Autoren wie Spengler geprägt. Man hat „a troubling lack of reference to Nietzsche in Wittgenstein’s texts and lectures“ feststellen wollen. Die eingehendere Prüfung des Materials führt zu einem ganz anderen Ergebnis. Es werden eine Reihe von Szenarien skizziert, deren Synopse über Nietzsches Bedeutung für Wittgenstein Aufschluss gibt. Die erste belegte Begegnung datiert von 1914: An der Front denkt er über Nietzsches „Feindschaft gegen das Christentum“ nach: Dass er sich dabei auf den Antichrist bezieht, wie in der Wittgenstein-Forschung generell angenommen, erweist sich als keineswegs sicher. In den dreißiger Jahren wird ihm die ‚Umwertung aller Werte‘ zu einer Formel zuerst für die geschichtliche Epoche und dann für seine eigene neue ‚Gedankenbewegung‘. Nietzsches Präsenz im Wiener Kreis, Wittgensteins zwiespältige Beziehung zu diesem und eine damalige Sicht auf den Zusammenhang zwischen den zwei Philosophien werden ausgehend von Waismanns Buch Logik, Sprache und Philosophie dargestellt. Zu Zarathustras Diktum „Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe“ hat Wittgenstein seit Eine philosophische Betrachtung wiederholt Stellung genommen. Der Begriff der Familienähnlichkeit und die Auseinandersetzung mit dem Wiederkunftsgedanken sind Gegenstand der letzten Abschnitte. - Abstract: This essay examines Wittgenstein’s statements about Nietzsche, the theses and positions that he (correctly or incorrectly) attributes to Nietzsche, his reflections upon those theses and positions and his assessment of Nietzsche’s place in history. There is no shortage of evidence that Wittgenstein read some of Nietzsche’s own works, but, other authors, such as Spengler, exerted at least as much influence on Wittgenstein’s perception of Nietzsche. Scholars have tended to assert „a troubling lack of reference to Nietzsche in Wittgenstein’s texts and lectures“. However, a more intensive examination of the available evidence leads to a very different result. The author of the essay outlines a series of encounters, which, taken as a whole, show Nietzsche’s importance for Wittgenstein. The first documented encounter took place in 1914: While on the front, Wittgenstein reflected upon Nietzsche’s „enmity toward Christianity“. The general assumption in Wittgenstein studies – that Wittgenstein here has The Antichrist in view – proves to be far from certain. In the ’30s, Wittgenstein used the phrase „revaluation of all values“, initially for the historical epoch and, then, for his own new „movement of thought“. On the basis of Waismann’s book, The Principles of Linguistic Philosophy (Logik, Sprache und Philosophie), the essay illustrates Nietzsche’s significance for the Vienna Circle, Wittgenstein’s ambiguous relationship to this group and a contemporary view of the relationship between the two philosophies. Beginning with The Brown Book, Wittgenstein repeatedly commented on Zarathustra’s motto „Soul is only a word for something hung upon the body“ (Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe). The final two sections of the essay deal with Wittgenstein’s concept of „family likeness“and with his critique of Nietzsche’s „Eternal Recurrence“.I documenti in IRIS sono protetti da copyright e tutti i diritti sono riservati, salvo diversa indicazione.